Liebe und Macken

Seit dem Moment unserer Geburt haben wir alle ein Ziel im Leben: Wir wollen geliebt werden. Von unseren Eltern, Geschwistern, Freund*innen und von unseren Partner*innen.

Wir wollen am liebsten bedingungslos geliebt werden, so wie wir sind. Und auf die Art, die wir kennen. Das bedeutet, dass wir anziehend und attraktiv gefunden werden möchten, sowohl physisch als auch psychisch. Im Grunde wollen wir Bestätigung haben, dass wir toll sind, so wie wir sind. 

 

Aber ist Liebe gleichzusetzen mit Bestätigung?

Wollen wir, dass unser*e Partner*in zu allem ja und Amen sagt, was wir meinen, denken und tun? Ist das überhaupt realistisch? Wir haben ja schließlich alle mindestens eine Macke, wir haben viele gute und eben auch ein paar schlechte Seiten an uns.

Oder können wir mit einem Satz von unserer*m Partner*in leben, wie: „Ich liebe dich, aber folgende Dinge gefallen mir nicht an dir: ....“

 

Bedeutet Liebe, dass man alles an einem Menschen liebt, die guten und die schlechten Seiten? Oder dass man einen Kompromiss findet? Und geht das nur, wenn die guten Seiten so gut sind, dass man die schlechten ertragen kann?

 

Im Laufe einer Beziehung fangen wir unweigerlich und unbewusst an, eine Liste im Kopf zu erstellen. Da stehen die Dinge drauf, die wir an unserer*m Partner*in nicht gut finden. Manchmal stehen da auch die Dinge drauf, die wir sehr gut finden. Aber oft liegt der Fokus auf der Negativseite, der Kontraseite. 

Ja, du kannst an dieser Stelle davon ausgehen, dass auch dein*e Partner*in eine solche Liste im Kopf über dich hat. Huch, Emoticon mit aufgerissen Augen? Tja. Was steht da wohl drauf? Willst du es wirklich wissen? Würdest du dein*e Partner*in danach fragen? Und wenn ja, was würdest du mit der Information machen, wenn du sie kennst? Könntest du damit umgehen, dass dein*e Partner*in dir einen Spiegel vorhält? Dass sie*er vielleicht im schlimmsten Fall Dinge an dir richtig doof findet, die du aber an dir richtig gut findest? 

 

Und wie würde es weitergehen, wenn du die Liste deiner*s Partnerin*s kennst? Was dann? Bedeute dies, dass du etwas anpassen solltest? Dich ändern? Oder wäre Anpassung dann nur der Weg, um eine 100%- Bestätigung anzustreben, die ja ohnehin unrealistisch ist?

Könntest du dann weiterhin unbeschwert Dinge tun, von denen du weißt, dass dein*e Partner*in sie doof findet? Oder würdest du diese Dinge künftig lieber heimlich tun? Oder wäre es dir egal, weil die wichtige Aussage in dem Satz „Ich liebe dich, aber folgende Dinge gefallen mir nicht an dir: ...“ nicht nach, sondern vor dem Komma steht. Weil es eben keine 100%-Liebe gibt, denn jeder hat ja Macken und schlechte Seiten. Also alles wieder vergraben? So lassen, wie es ist und nicht wissen wollen, was dein*e Partner*in an dir nicht mag?

 

Oder ihr*ihm vielleicht mal an einem ruhigen Abend die mutige Frage stellen: „Welches der Dinge, die du nicht an mir magst, ist so schwer für dich zu ertragen oder auszuhalten, dass du wünschtest, ich würde es ändern?“ Diese Frage nicht gestellt mit dem Ansatz, sich der*m Partner*in blind anzupassen. Sondern mit dem Hintergrund, sich zu nähern und herauszufinden, was in dem Menschen vorgeht, den du liebst und der dich liebt. Wie sie*er dich sieht. Und es ist völlig offen, was du mit der Antwort machst. Du musst gar nichts ändern, wenn du nicht möchtest. Denn du bist richtig und gut ganz genau so, wie du bist und du musst keine Grenzen überschreiten, die für dich wichtig sind. Du könntest aber ihr*ihm erzählen, warum du machst, was du machst und warum du bist, wie du bist. Vielleicht ändert das ihren*seinen Blickwinkel.

 

Es lohnt sich, für den gemeinsamen Weg mit dem geliebten Menschen den einen oder anderen Kompromiss einzugehen, ohne die eigenen Grenzen zu überschreiten. Der Weg wird dann trotzdem ab und zu steinig sein, doch die Lawine bleibt aus. Denn im Alltag sind es eben oft die kleinen Macken, die uns nerven. Um vom Stein zum Wasser zu kommen: Die kleinen Macken sind manchmal die Wassertropfen, die unser Fass in unserem Familien- und Berufsstress zum Überlaufen bringen. Wir haben es selbst in der Hand, welche Bedeutung wir ihnen beimessen und ob wir sie ändern müssen, wollen, können. 

Wir können andere Menschen nicht ändern, aber uns selbst. Und wir können mit dem Menschen sprechen, den wir lieben und von ihr*ihm erfahren, was wir gemeinsam tun können, um Lawinen und vollen Fässern auszuweichen.